Offener Brief
an den Landesvorstand Berlin der Partei Die LINKE und die Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus
Berlin 10.11.2024
Rückkehr zu linker Politik
Stoppt die fraktionellen ideologischen Streitereien
Der Landesvorstand und die Fraktion im Abgeordnetenhaus sind in den letzten Wochen ihrer politischen Verantwortung für die politische Handlungsfähigkeit des Landesverbandes nicht mehr gerecht geworden. In einer Situation, in der sich die Partei Die LINKE in einer existenziellen Krise befindet, habt ihr es zugelassen, dass im Landesverband Berlin ein ideologisch überladener Kampf zwischen fraktionellen Gruppierungen bis zum Austritt einer Reihe von exponierten Mandatsträgern aus der Linkspartei eskaliert wurde. Der Konflikt wurde nicht mit Argumenten um Differenzen in politischen Sachfragen ausgetragen, sondern versumpfte in Verdächtigungen um vermeintliche Haltungs- und Gesinnungsfragen. Der Landesverband Berlin, der für die Gesamtpartei eine besondere Bedeutung besitzt, wird heute durch fortdauernde Auflösungstendenzen geprägt.
Sicher sind der Nahostkonflikt und das Leiden der palästinensischen wie der israelischen Zivilbevölkerung in einer Stadt, in der viele Menschen mit engen familiären Beziehungen in das Kampfgebiet leben, von besonderer politischer und emotionaler Brisanz. Deshalb hat die Berliner Linkspartei auch die Aufgabe, diesen Menschen in ihrer Not beizustehen und allen Versuchen, Hass und Gewalt in Berlin zu schüren, entgegenzutreten. Israelis und Juden, Palästinensern und Muslimen, die für Frieden und Freiheit eintreten, gehören unsere Solidarität, unsere Unterstützung und unser Schutz – in Berlin. Jeder Rechtfertigung des rücksichstlosen, menschenverachtenden Einsatzes von Waffengewalt als Mittel zur Lösung des Nahost-Konflikts treten wir offensiv entgegen.
In einem lebendigen Landesverband werden notwendigerweise jenseits konkreter Landespolitik auch gesellschaftspolitische Grundfragen wie Frieden und Abrüstung, Humanismus und internationale Solidarität, Rassismus und Antisemitismus, Klimakrise und Artensterben usw. diskutiert. Die Diskussion solcher Grundfragen muss zum einen durch Rationalität, Solidarität und Toleranz geprägt sein. Wenn wir dies nicht innerhalb der LINKEN praktizieren, sind unsere Forderungen nach Toleranz, Demokratie und Freiheit für die Gesellschaft unglaubwürdig. Zum anderen müssen diese Diskussionen nicht als Glaubensauseinandersetzung geführt werden, sondern auf reale Politik gerichtet sein, wollen wir in der Gesellschaft als eine politische Partei wahrgenommen werden und nicht als weltabgewandter akademischer oder quasireligiöser Streitzirkel.
Landesvorstand und Fraktion stehen jetzt in der Pflicht, die Selbstzerstörung des Landesverbandes zu stoppen und die Berliner LINKE zur politischen Wirksamkeit in der Stadt zurückzuführen. Das ist keine einfache Aufgabe, denn der Präsenz- und Kompetenzschwund im Berliner Landesverband der LINKEN in den letzten Jahren ist vielerorts in der Stadtgesellschaft registriert worden. Die jüngsten Austritte einer Reihe von fachlich weit über die Reihen der Partei hinaus anerkannten Genossinnen und Genossen ist ein weiterer Schritt in dieser Entwicklung. Dieser Ansehens- und Kompetenzverlust resultiert unter anderem aus der allgemeinen Mitgliederentwicklung im Landesverband, dem Ausscheiden vieler erfahrener Genossinnen und Genossen aus der aktuellen Politikgestaltung. Er kann nicht mit Absichtserklärungen aus der Welt geschafft werden, sondern nur durch Offenheit und Bereitschaft zum Lernen und durch Umsetzung in konkrete Politik. Auf diese Aufgabe sollten sich Vorstände und Fraktionen des Landesverbandes in der kommenden Zeit konzentrieren. Dafür sind verschiedene Formate für die pluralistische Bearbeitung der konkreten stadtpolitischen Themen zu entwickeln wie thematische Landeskonferenzen, Weiterbildungsseminare zu Fachgebieten der Kommunalpolitik oder parteioffene Arbeitsgruppen zu relevanten Themen der Stadtpolitik. Lernbereitschaft ist die Voraussetzung für mehr politische Kompetenz. Selbstgewisse Dogmenstreitereien sind vielleicht gut für Kirchen und Sekten, für politische Parteien sind sie ein tödliches Gift. Jeder weiteren Eskalation der selbstbezogenen ideologischen Auseinandersetzung ist in allen Parteistrukturen und Fraktionen entgegenzutreten. Aufforderungen an profilierte Genossinnen und Genossen, die weiter mit der LINKEN zusammenarbeiten wollen, zur Rückgabe ihrer Mandate stellen nicht nur das Gegenteil von progressiver Politik dar, sondern auch einen Rückfall in ein lange überwunden geglaubtes Parteiverständnis. In unseren Kandidatenlisten und Fraktionen sind parteilose Mitstreiter immer willkommen gewesen.
Ohne das spürbare Eingreifen in die realen Verhältnisse der Stadtgesellschaft wird die Beschwörung, dass Die LINKE gebraucht würde, zur hohlen Phrase. Nur mit konkreter Politik kann sie einen Gebrauchswert ausbilden. Hauptaufgabe des Landesverbandes der LINKEN ist es, an der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Berlin mitzuwirken. Die Probleme der Landespolitik müssen die Priorität haben, andernfalls ist die LINKE als politische Partei in den Gremien und Institutionen der Landes- und Kommunalpolitik überflüssig.
Angesichts der nach dem Ende der Regierungskoalition anstehenden Neuwahlen zum Bundestag ist die Einberufung des 10. Landesparteitages vorzuziehen, um diesen als Chance für einen integrativen Neubeginn des Landesverbandes, der in die Stadtgesellschaft ausstrahlt, zu nutzen. Kein „Weiter so“! Keine selbstgefälligen allgemeinen Bekenntnisphrasen und Worthülsen!
Wir wollen die Demokratie schützen, indem wir ihre alltäglich erlebbaren Fehler kritisieren und ihren Grundprinzipien im gesellschaftlichen Alltag wieder Geltung verschaffen. Wir wollen mit unserem Wahlkampf ausstrahlen, dass die Berliner LINKE kompetent für konkrete soziale, ökologische und partizipative Veränderung der Gesellschaft streitet, in Berlin und in ganz Deutschland: demokratisch, pluralistisch, tolerant.
Michail Nelken,
Bezirksverband Pankow