28.09. 2022
Ein Nachruf
1. Peinliche Beerdigung
Nach wochenlangem sturem Festhalten und Schönreden der Gasumlage durch Minister Habeck und die Grünen hat sich die Regierungskoalition zwei Tage vor deren Start zu einer peinlichen Ankündigung ihrer Absage durchgerungen. Statt aber einzuräumen, dass dies Idee von Beginn an sozial- wie wirtschaftspolitisch ein untaugliches Vorhaben zur Rettung von Energiekonzernen gewesen ist, tischt man der Öffentlichkeit die absurde Erzählung auf, dass man bislang auf die Energiekrise richtig und angemessen reagiert habe, aber nunmehr eine neue Lage nach anderen Maßnahmen verlange. Die neue Lage, bestehe darin, dass nun nicht nur kein russisches Gas mehr nach Deutschland fließe, sondern durch die Sabotage der Nordstream-Leitungen auch keine Aussicht mehr auf zukünftige Pipeline-Importe bestünde.
Eine dreiste Nebelkerze, denn die Einführung der Gasumlage ist mit dem Erfordernis der Ersetzung von ausbleibenden russischen Gaslieferungen begründet worden. Die Preisdifferenzen beim Substituieren des russischen Erdgases sollten den Gasimporteuren aus der Gasumlage ausgeglichen werden. Jetzt bekunden Ampelpolitiker Erleichterung, dass man statt der Gasumlage nun ein anderes geeignetes Mittel gefunden hätte. Die Idee von Habeck, bei ohnehin stark steigenden Preisen das Gas zusätzlich zu verteuern, sei wohl kein zielführender Beitrag zur Bewältigung der Gaskrise gewesen. Seit dem Bundestagsbeschluss vom 7. Juli bis Anfang September hatten die Ampel-Koalitionäre die Gasumlage als notwendig verteidigt. Was Scholz, Habeck und Lindner am 29.September als Alternative präsentierten, war ein Signal („Doppelwumms“) in höchster Not, aber kein Plan zur Senkung der hohen Energiepreise. Im Gegenteil, die hohen Marktpreise sollen nicht gesenkt, sondern ihre Wirkung auf die Verbraucher vorübergehend „abgefedert“ werden. Statt politisch die Energiepreise zu deckeln, hofft man weiter auf eine Rückkehr „normaler“ Marktverhältnisse.
2. Gasmarkt / Sanktionen / Angriffskrieg
Die gegenwärtige Gaspreiskrise ist nicht durch Wirtschaftssanktionen und Gegensanktionen infolge des Überfalls Russlands auf die Ukraine verursacht. Sie zeichnete sich schon mit dem Beginn der Gaspreisrallye Anfang 2021 ab. Ihre Ursachen sind vielfältig: die deutsche Energiewende, die angekündigte Reduzierung des Imports russischen Erdgases, die massiven Bestrebungen, die Inbetriebnahme von Nordstream 2 zu verhindern, die zunehmende Unberechenbarkeit russischer Akteure im Wirtschaftskrieg. Diese und andere Faktoren haben den Gaspreis schrittweise in die Höhe getrieben. Die drastische Verschärfung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland als Antwort auf den russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 und die Unsicherheit über russische Gegensanktionen haben dieser vorhandenen Entwicklung einen dramatischen Schub verliehen. Es kam zu einer Preisexplosion auf dem Gasmarkt, die nicht aus einer akuten Mangellage an physischem Gas resultierte, sondern aus einer Verunsicherung der Marktteilnehmer hinsichtlich der zukünftigen Markt- und Preisentwicklung. Es gab und gibt kein „Mengen-Problem“, weil das ausbleibende russische Gas vom finanzstarken Deutschland ersetzt werden kann. Aber es baute sich ein gewaltiges Preis-Problem auf, weil die Ersatzlieferungen um ein Vielfaches teurer sind als das russische Gas. Flüssiggas wird weltweit gehandelt. Wenn die finanzkräftigen Westeuropäer auf diesem Markt verstärkt kaufen, können die Exporteure die Preise nach oben drücken. Verlierer sind die armen Länder und die Gaskunden in Europa. Diese Anomalie, so ist seit Monaten erkennbar, wird der Markt nicht aus eigener Kraft korrigieren können.
Der in den letzten Jahrzehnten aufgebaute liberalisierte Gasmarkt in Deutschland und Europa ist „Produzent“ dieser Preisexplosion und zugleich ihr „Opfer“. Er kann mit ihr nicht wirtschaftlich rational umgehen und droht deshalb zusammenzubrechen. Denn der liberalisierte Gasmarkt ist ein komplexes Netzwerk mit sehr vielen Akteuren – Importeuren, Fernleitungsbetreibern, Gasspeicherbetreibern, hunderten Verteilnetzbetreibern und noch mehr kleinen und großen Gashändlern (Versorgern), die europaweit Gas kaufen und an die Endverbraucher (private Haushalte, große und kleine Unternehmen, Institutionen) verkaufen. In diesem System bestehen gestufte wirtschaftliche (finanzielle) Beziehungen, deren Asynchronität Teil des Geschäftsmodells ist. Die Preissprünge der letzten Monate stellen allerdings auf Grund der zeitlich differierenden vertraglichen Bindungen die wirtschaftliche Existenz vieler dieser Marktakteure und damit die Stabilität der Energieversorgung in Frage. Deshalb sah sich die Regierung im Frühjahr 2022 genötigt, mittels einer Novellierung des Energiesicherungsgesetzes (EnSiG) neue Steuerungsmechanismen zur Stabilisierung des Gasmarkts einzuführen.
3. Schiefe Ebene – Energiesicherungsgesetz 1
Da dies unter hohem Zeitdruck geschah und der liberalisierte Gasmarkt ein komplexes System ist, unterliefen dabei Fehler. Die Regierungsparteien haben Ende April 2022 angesichts der Anspannungen und Unsicherheiten zur Sicherung der Energieversorgung diese Gesetzesnovelle in den Bundestag eingebracht. Die Beschlussfassung erfolgte Ende Mai 2022 in Bundestag und Bundesrat. Der wichtigste Punkt war der § 24 EnSiG. Danach kann die Bundesnetzagentur die Feststellung treffen, dass eine erhebliche Reduzierung der Gesamtgasimportmengen nach Deutschland vorliege. Mit dieser Feststellung erhalten alle von der Reduzierung der Gasimportmengen unmittelbar durch Lieferausfälle oder mittelbar durch Preissteigerung ihres Lieferanten infolge der Lieferausfälle betroffenen Energieversorgungsunternehmen entlang der Lieferkette das Recht, ihre Gaspreise gegenüber ihren Kunden auf ein angemessenes Niveau anzupassen. Damit sollte die aus den differierenden Vertragslaufzeiten resultierende Insolvenzgefahr abgewendet werden. Alle Preissteigerungen auf Grund der Mangellage können in einer solchen Situation sofort weitergereicht werden, gleich welche Preisbindungen vertraglich bestehen.
Der Ampel-Regierung wurde von den Verbänden der Energiewirtschaft schnell deutlich gemacht, dass dieses Instrument nicht geeignet sei, den Gasmarkt zu stabilisieren und die Insolvenz systemrelevanter Unternehmen zu verhindern. Die Belastungen beträfen geballt Unternehmen, die Verträge mit russischem Erdgas im Portfolio haben und deren Endabnehmer. Das würde dieses Marktsegment überfordern und dem Markt die Stabilität und Ausgleichsfähigkeit rauben. – Deshalb schob man innerhalb weniger Wochen eine neuerliche Gesetzesänderung nach, die ohne seriöse Aussprache den Bundestag passierte und dabei trotz ihrer Bedeutung von kaum einem Abgeordneten wahrgenommen wurde.
4. Gasumlage – Änderung Energiesicherungsgesetz 2
Die am 7. Juli 2022 beschlossene neuerliche Änderung der Energiesicherungsgesetzes enthielt u.a. neu den § 26 (Gasumlage) und den § 29 (Erleichterung staatlicher Stützung von Energieunternehmen). Mit der Gasumlage sollte zur Stabilisierung des Marktes ein neuer Weg beschritten werden. Statt über die instabile Lieferkette die höheren Preise weiterzureichen, sollte nun der Importeuer am Beginn der Kette 90 % der Preisdifferenz gegenüber den ursprünglichen Lieferverträgen ausgeglichen bekommen. Das Geld dafür sollte per gesetzlicher Umlage bei allen Gas-Versorgern, unbeachtlich ob sie Geschäftsbeziehung zu diesen Importeuren haben, erhoben werden.
Wesen der Gasumlage
Die Gasumlage stellte eine Überbrückungshilfe für Gasimporteure dar, die russisches Erdgas in ihrem Portfolio haben und dieses mit Neuverträgen zu hohen Weltmarktpreisen substituieren mussten. Diese Finanzhilfen sollen in der Zeit, bis die Gasimporteure die Preiserhöhungen vollständig an ihre Kunden durchreichen können, die Liquidität der Unternehmen sichern helfen. Mittels der Habeckschen „Gasversorgungsumlage“ sollten die Gasversorger diese Hilfen finanzieren sich dieses Umlage-Geld bei den Endverbrauchern auf dem Wege von Preiserhöhungen zurückholen. Das Volumen der erforderlichen Hilfe wurde nach den Anmeldungen von 12 Unternehmen auf ca. 34 Mrd. Euro geschätzt.
Dieses Vorgehen wurde als besserer Weg gepriesen, weil damit die Subventionslasten zugunsten der großen Importeure auf alle Gasversorger und alle Gaskunden verteilt würden. Warum die Gaskunden (via Versorger) diese Überbrückungshilfen überhaupt zahlen sollen, wo es sich doch um das wirtschaftliche Risiko der Händler und um die Stützung systemrelevanter Infrastruktur handelt, ist unbegründet geblieben. Alle Versuche von Habeck, die Gasumlage zu rechtfertigen, beinhalten falsche Sachverhaltsdarstellungen. Die Behauptung, man wollte die Lasten „gerechter“ als nach dem § 24 EnSiG auf alle Gaskunden verteilen, verschleiert, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für das direkte Durchreichen der Preissteigerungen nach § 24 EnSiG, nämlich eine Gasmangellage (wesentlich verringerte Gesamtimportmenge), gar nicht gegeben sind. Gas ist ausreichend vorhanden, nur ist es viel teurer als das russische. Es gibt kein Mengenproblem, sondern ein Preisproblem, weil die Anbieter billigen Pipeline-Gases aus Russland vom Markt verschwunden sind. Habeck verschwieg zudem, dass dieser Kaskadenmechanismus über die Lieferkette angesichts der Geschwindigkeit der Preissteigerung für die Sicherung der Liquidität der Energiekonzerne zu schwerfällig wäre. Und er verschleierte das zentrale ordnungspolitische Motiv für der Finanzierung der Hilfen über die Gasumlage.
Umlageverordnung und Trittbrettfahrer?
Nachdem am 09. August die Gasumlageverordnung in Kraft trat und 12 Gasimporteure ihre Ansprüche anmeldeten, geriet die Gasumlage in die öffentliche Kritik. Zum einem, weil damit die ohnehin stark steigenden Gas-Preise noch zusätzlich angehoben würden. Zum anderen, weil unter den Firmen, die Ansprüche aus dem Umlagetopf angemeldet haben, solche waren, die in der Energiekrise erhebliche Sonderprofite machen. Deshalb müssten Gesetz und Verordnung, so die Kritiker, nachgebessert werden, damit die Überbrückungshilfen auf Unternehmen beschränkt würden, die tatsächlich in ihrer Existenz gefährdet seien. Habeck versprach Abhilfe: Man werde die Trittbrettfahrer durch eine kurzfristige dritte Änderung des Gesetzes runterschubsen und für die Verbraucher weitere Entlastungsmaßnahmen ergreifen.
Habeck und die Ampelkoalition taten viel dafür, dass die Frage, warum eigentlich alle Gaskunden die Überbrückungshilfen für die (Ex-)Importeure von russischem Gas finanzieren sollen, bis diese die höheren Preise des Ersatzgases an sie weitergeben könnten, nicht thematisiert wurde. Warum sollte nicht der Staat und damit die Gesamtheit der Steuerzahler die Stützung dieser für die Versorgungssicherheit wichtigen Firmen finanzieren?
Habeck & Lindner – die Marktapologeten
Auf die Frage, warum er Uniper nicht mit direkten Starthilfen stützen wolle, sondern stattdessen die Gasumlage ersonnen habe, antwortete Habeck, dass direkte Staatshilfen an angeschlagene Unternehmen keine Lösung seien, denn eine dauerhafte Finanzierung durch den Staat sei „kein Geschäftsmodell“. Deshalb sei die Gasversorgungumlage der erforderliche und richtige Weg.
Angesichts der bereits beschlossenen direkten Staatshilfen für Uniper, SEFE und absehbar auch für VNG schien diese Antwort auf den ersten Blick nicht plausibel. Doch offenbart sich bei genauer Betrachtung der Hintergrund des scheinbar so widersinnigen Agierens von Habeck & Lindner. Sie wollten unbedingt eine Stützung des Gasmarktes und der Konzerne mittels marktverträglicher Instrumente. Darauf drängten bei Habeck nicht nur die Banken und Ratingagenturen, sondern auch die Verbände der Energiewirtschaft. Direkte Eingriffe des Staates in die Preisgestaltung und eine Staatssteuerung der Versorgung statt eines versorgenden Gas-Marktes sollten unbedingt vermieden werden, weil dies die Funktionsfähigkeit der Energieversorgung über Märkte grundsätzlich in Frage stellen könnte.
Die Gasumlage war das Gegenteil eines Gaspreisdeckels. Die Gasumlage war eine gesetzlich verordnete Abgabe der Versorger an den Marktgebietssteuerer THE GmbH. Der damit eine Preisgarantie für die anspruchsberechtigten Gasimporteure finanziert. Die Umlage erreicht die Gasendkunden als Preiserhöhung, auch wenn sie vom Gesetz nicht zur Umlage verpflichtet werden. Der verpflichtete Versorger erhöht den Preis entsprechend und hat sich diese außerordentliche Erhöhungsmöglichkeit in aller Regel in den AGB der Lieferverträge mit seinen Kunden abgesichert. Die Umlage wird nicht vom Staat vereinnahmt, sondern ist quasi ein marktinterner Stabilisierungsbeitrag zu Lasten Dritter. Geplant war eine Risikoabschirmung per Gesetz für einige Gashandelsunternehmen mittels Preisgarantien zu Lasten aller Gaskunden. Die von der Garantie Begünstigten sind die Anteilseigner / Aktionäre von drei bis vier großen Energieunternehmen, die mit russischem Gas gehandelt haben.
5. Uniper-Verstaatlichung – Gasumlage scheitert
Letztlich kommt es, wie es kommen musste: Habeck & Lindner sind mit ihrem starrsinnigen Versuch, den Gasmarkt mit Marktmitteln, statt mit direkter staatlicher Preisdeckelung zu stabilisieren, gescheitert. Uniper ist über die aus der Gasumlage zu finanzierenden Einnahmegarantien nicht zu retten und wird deshalb verstaatlicht. Wenn der Staat zu 99% Eigentümer von Uniper ist, würde die Gasumlage, die zu 2/3 in die Kassen von Uniper fließen soll, zur gesetzlich verordneten Abgabe für alle Versorger zu Gunsten eines Staatsbetriebes. Da äußerten zu guter Letzt auch Habeck & Linder rechtliche Bedenken. Dass die zusätzliche Verteuerung der Gaspreise durch die Gasumlage angesichts der ohnehin sozial wie wirtschaftlich zerstörerischen Preisentwicklung auf dem Energiemarkt eine neoliberale Verirrung zweier marktapologetischer Minister war, weigern sich die Ampelparteien standhaft zuzugeben. Keine Fehlerdiskussion! Habeck und die Ampelkoalition schwätzen sich aus dem Gasumlage-Desaster heraus. Bei einer solch verpeilten Opposition fällt ihnen das auch nicht schwer.
6. LINKE ohne Orientierung
Besonders desorientiert mutet das Agieren der Bundestagsfraktion der LINKEN an. Erst stimmt sie als einzige Oppositionsfraktion der Gesetzesänderung für die Gasumlage am 7. Juli 2022 zu. Wenige Wochen später prangert sie diese als unzumutbare Zusatzbelastung für untere und mittlere Einkommensschichten und kleine Unternehmen an und verlangt kompensierende Entlastungsmaßnahmen. Die Regierung liefert diese postwendend mit der Absenkung der Mehrwertsteuer für Gas von 19 auf 7 %. Dann werden die möglichen Finanzhilfen für Energiekonzerne mit „Übergewinnen“ skandalisiert. Habeck verspricht Nachbesserung. Der neoliberale wirtschafts- und sozialpolitische Kerngehalt der Gasumlage ist für die LINKE lange kein Thema. Am 10.September fast der Parteivorstand einen Beschluss über einen „Heißen Herbst gegen soziale Kälte“, in dem der Blick auf die tieferliegende und globale Wirtschafts- und Systemkrise gerichtet wird. Aber zwei Tage zuvor hatte Sahra Wagenknecht in der Haushaltsdebatte des Bundestages eine engsichtige Rede gehalten, die zum Anlass für einen weitgehend substanzlosen Flügelstreit mit und um Sahra Wagenknecht auslöste, der die richtigen Ansätze des Vorstandsbeschlusse politisch unsichtbar machte.
In dieser linken Leerstelle ist es S. Wagenknecht möglich, sich als radikale Kritikerin der Regierungspolitik in der Gas- und Energiekrise zu positionieren, was sie aber überhaupt nicht ist. Sie echot und verstärkt vielmehr die trivialen Erklärungs- und Rechtfertigungsmuster von Habeck und der Bundesregierung: Putin sei an der Gas- und Energiekrise schuld, sagt die Regierung. Mit Putin, dem vom Westen verprellten Kremlchef, als Schlüpsselfigur für eine Problemlösung, sagt Wagenknecht, müsse man doch reden, um ihn zu bewegen, „uns“ (?) wieder Gas zu liefern. Abgesehen davon, dass diese Sicht intendiert, es ginge in dieser geopolitischen Krise um einen Konflikt verstrittener Politiker und Regierungen und nicht um einen strategischen Interessenkonflikt von Großmächten, wird realitätsfremd unterstellt, dass „wir“ in Deutschland zu den guten alten Zeiten des massenhaft vorhandenen, billigen Erdgases aus Russland zurückkehren könnten. Dann sei wieder alles gut, „unsere“ Wirtschaft und „unser“ Wohlstand wären gerettet.
Tatsächlich ist das Problem viel umfassender und von grundsätzlicher Natur. Vor dem Hintergrund der Klimakrise und der Endlichkeit der fossilen Energieressourcen befinden sich die deutsche, die europäische und die Weltwirtschaft in einem Transformationsprozess, der mit vielen Umwertungsprozessen und Verwerfungen verbunden ist. Vor diesem Hintergrund erfuhr die gegenüber Russland verfolgte Abgrenzungsstrategie durch den russischen Überfall auf die Ukraine in der praktischen Politik eine Dynamisierung und Komplexität, die die Fähigkeiten der deutschen Regierungs- und Oppositionspolitik offensichtlich überfordert. Die EU und der nordatlantische Westen zeigen sich nicht in der Lage, die durch ihr Tun forcierte Energiekrise sozial zu bewältigen. Vielmehr beschwören die verantwortlichen Politiker für die Staaten des Bündnisses und damit wahrscheinlich für die ganze Welt eine globale Wirtschaftskrise herauf.
Dies ist begleitet von einer ernsten Krise des „westlichen“ politischen Systems. Eine demokratische sozialistische Politik kann in dieser Situation nicht auf die Restauration einer illusionären Vergangenheit des Wachstumskapitalismus weniger Nachkriegsjahrzehnte im 20. Jahrhunderts gerichtet sein. Die demokratische Linke sollte sachkundige Lösungen für eine politische Steuerung dieses unausweichlichen globalen Transformationsprozesses – von der quantitativen Wachstums- und Verbrauchsgesellschaft zu einer Entwicklungsgesellschaft, die ihre natürlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen systemerhaltend sozial gerecht und ökologisch nachhaltig reproduziert – erarbeiten und diese überzeugend in den gesellschaftlichen Meinungs- und Willensbildungsprozess einbringen. Ansonsten macht man den Weg frei für rückwärtsgewandten Populismus aller Couleur.
Michail Nelken | 28. September 2022
Der beitrag erscheint in einer gekürzten Fassung im ND am 2o.10.2022