27.01.2023
„Zukunftsstaatsdebatte“ im Deutschen Reichstag 1893 – ungelöste Fragen bis heute.
Am Ende des 19. Jahrhunderts befand sich die kapitalistische Welt in einer Wirtschafts- und Systemkrise. Endzeitstimmung und Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung breitete sich unter unterschiedlichen politischen Vorzeichen in vielen Kreisen der Gesellschaft aus. Die internationale sozialistische Arbeiterbewegung, die die kapitalistische Gesellschaftsordnung durch eine sozialistische zu ersetzen anstrebte, erstarkte in vielen Ländern Europas, insbesondere in Deutschland. Zu Beginn des Jahres 1893 kam es im Deutschen Reichstag zu einer denkwürdigen Debatte über den sozialistischen Zukunftsstaat der Sozialdemokratie. Sie erstreckte sich über fünf Sitzungstage in der Zeit vom 31. Januar bis zum 7. Februar 1893 und ging als „Zukunftsstaatsdebatte“ in die Geschichte ein.
Auf der Tagesordnung des Reichstages stand eigentlich das Budget des Reichsamtes des Inneren. In diesen fünf Tagen wurde im Reichstag allerdings in ausgedehnten Reden über die nach einer hypothetischen Regierungsübernahme der Sozialdemokraten entstehende Staats- und Gesellschaftsordnung diskutiert. Das war natürlich keine akademische Debatte, sondern eine parteipolitische Redeschlacht vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise, hoher Arbeitslosigkeit und zunehmender Not der arbeitenden Bevölkerung. Die SPD hatte sich nach dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 auf dem Erfurter Parteitag 1891 ein revolutionäres marxistisches Parteiprogramm gegeben, das die Überwindung des Kapitalismus und die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung als Lösung aller sozialen Probleme auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Zudem hatte die SPD bereits im Herbst 1892 eine breite Kampagne gegen eine neue Wehrvorlage gestartet, die eine drastische Erhöhung der Ausgaben für die Aufrüstung des Deutschen Reiches vorsah. Die Finanzierung der Aufrüstung, so die Sozialdemokraten, würde die Notlage des Volkes noch zusätzlich verschärfen. Ein Scheitern der Wehrvorlage würde zu einer Auflösung des Reichstages und Neuwahlen führen, wovon sich die SPD einen weiteren politischen Machtgewinn erhoffte.
Angesichts dessen sah sich das staatstragende Lager von den konservativ-reaktionären Parteien über die katholische Zentrumspartei bis hin zu den Liberalen in der politischen Defensive. Offenbar hatten alle Sozialreformmaßnahmen der letzten Jahre den Zulauf zur Sozialdemokratie nicht stoppen können. In Sachen Sozialreformen und Aufrüstung des Heeres waren die bürgerlichen Parteien zwar untereinander uneinig, angesichts der absehbaren Neuwahlen jedoch schien ein gemeinsamer Angriff der systemtragenden Parteien gegen die umstürzlerische SPD auf der Tribüne des Reichstages ein erfolgversprechendes politisches Manöver.
In den herrschenden Kreisen hatte sich die Einsicht verbreitet, dass man der Sozialdemokratie allein mit Repressionsmitteln nicht Herr werden könne, sondern auch deren erfolgreiche Agitation bekämpfen müsse. Schon in den zurückliegenden Jahren waren einige propagandistische Kampfschriften gegen die Sozialdemokratie publiziert worden. Am bekanntesten wurde die Schrift von Eugen Richter Sozialdemokratische Zukunftsbilder. Frei nach Bebel, die im Jahre 1891 erschien, und deren vielfache Auflagen massenhafte Verbreitung fanden. In der Reichstagsdebatte über den sozialdemokratischen Zukunftsstaat Anfang 1893 spielte diese Schrift eine gewichtige Rolle, und Eugen Richter, Reichstagsabgeordneter der Deutschen Freisinnigen Partei, ergriff in der Debatte persönlich das Wort. Eröffnet wurde sie aber von Dr. Karl Bachem, einem Abgeordneten der Deutschen Zentrumspartei.
Bachem forderte August Bebel direkt auf, hier und jetzt darzulegen, wie der sozialdemokratische Zukunftsstaat aussehen und funktionieren solle. Er habe sich bemüht, dies durch das Studium sozialdemokratischer Texte zu erfahren, habe aber lediglich einige Elemente, jedoch keine klare Konstruktion dieser Staatsordnung gefunden. Könne er denn das Gebilde, das der Kollege Eugen Richter aus diesen Schriften als sozialdemokratischen Zukunftsstaat konstruiert habe, als Zukunftsplan der SPD annehmen? Eine rein rhetorische Frage, wusste Bachem doch genau, dass die Sozialdemokraten die Richter‘sche Kampfschrift mit Kritik und Spott überschüttet hatten. Bachem fokussierte seinen Angriff dann auf die Frage, wie im sozialdemokratischen Zukunftsstaat Produktion, Distribution und Konsumtion geplant und reguliert werden würden. Da die Produktionsmittel in Gemeineigentum vergesellschaftet und die Marktwirtschaft abgeschafft werden sollten, bedürfe es ja einer andersartigen Regulierung von Produktion und Konsumtion. Weil die Menschen aber eigenwillig und egoistisch seien, bräuchte der sozialdemokratische Staat zur Realisierung dieser zentral geplanten Produktion doch mehr Autorität und Zwangsmittel als der heutige.
Obgleich sich die Redner der staatstragenden Parteien – vom Liberalen Eugen Richter über den Konservativen Freiherr von Stumm-Halberg (ein Montanindustrieller) bis zum antisemitischen Rechtsaußen Adolf Stoecker (Domprediger in Berlin) – in unterschiedlichen Detailausschmückungen ergingen, bewegten sie sich alle auf dieser Linie. Die Verheißung von Gleichheit, Freiheit und Wohlfahrt für alle im sozialdemokratischen Zukunftsstaat sei ein Schwindel, mit dem die SPD die Arbeiterschaft zu einem abenteuerlichen Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung aufwiegeln wolle. Stattdessen würden Zwang, Unterdrückung, wirtschaftlicher Niedergang und Armut diesen sozialdemokratischen Zukunftsstaat prägen. Die Sozialdemokraten würden einen Zukunftsstaat der Eigentumsgleichheit, gleicher Arbeit und gleicher Rechte ohne Rücksicht auf die Natur der Menschen konstruieren. Das sei ein Irrweg, da die Menschen eben nicht gleich seien. Auch sei so eine allgemeine Gleichheit auf freiwilliger Basis bestenfalls mit idealen uneigennützigen Menschen möglich. Aber die wirklichen Menschen strebten mehr oder weniger nach dem eigenen Vorteil. Aus diesen Gründen würde der sozialdemokratische Zukunftsstaat notwendig als ein Zwangsstaat enden, der einem Zuchthaus gleichen würde.
Die Hauptlast der Debatte auf sozialdemokratischer Seite trug August Bebel. Er hielt zwei große Reden am 3. und am 6. Februar 1893. Er stellte die rein politisch-taktischen Ziele heraus, die hinter dieser von den staatstragenden Parteien vom Zaun gebrochenen Debatte über einen sozialistischen Staat standen. Sie würden hier eine „Verlegenheitsdebatte“ führen, um angesichts der absehbaren Neuwahlen ein Schreckensbild von den Zielen der Sozialdemokratie zu zeichnen, das die Arbeiter davon abhalten solle, die SPD zu wählen. Im Übrigen sei ein Großteil der für den sozialdemokratischen Zukunftsstaat prophezeiten Schrecken für große Teile der arbeitenden Bevölkerung gerade heute Realität: Armut, Mangel an Möglichkeiten zur Bildung, familien- und gesundheitsschädigende Arbeits- und Lebensverhältnisse, das Fehlen an realer Freizügigkeit bei der Wahl der Arbeit und des Lebensortes aufgrund existenzieller Zwänge der Lohnarbeit. In einer sozialistischen Gesellschaft würden aber diese schrecklichen Verhältnisse endgültig beseitigt. Die SPD sei die radikal demokratischste Partei in Deutschland. Außerdem würde eine sozialdemokratische Regierung, die versuchen sollte, das hier von den staatstragenden Parteien gemalte Zuchthausregime einzuführen, umgehend von den Arbeitern aus dem Amt gejagt.
Sodann legte Bebel dar, dass die SPD gar keinen „Zukunftsstaat“ anstrebe, weshalb man von ihm auch nicht erwarten könne, dass er diesen ausmale. In der Frühphase der Sozialdemokratischen Bewegung hätte es allerdings die Tendenz gegeben, einen idealen „Zukunftsstaat“ zu konstruieren und für dessen Einführung zu werben. Solche Utopien seien auch in den Oberschichten en vogue gewesen. Die Sozialdemokratie habe sich aber weiterentwickelt, und ihre Programmatik stehe jetzt auf dem Boden der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Lauf der Geschichte. Der Kapitalismus sei ein notwendiges Stadium der Menschheitsgeschichte zur Entfaltung der Produktivkräfte, aber er würde zunehmend zu deren Fessel. Daraus folge geschichtlich notwendig seine Überwindung. Die kommende sozialistische Gesellschaft sei kein utopisches Gedankenkonstrukt, sondern das naturgesetzliche, logische Produkt der kapitalistischen Gesellschaft. Die Eckpunkte dieser neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung leiteten sich aus den wesentlichen Defiziten der kapitalistischen Gesellschaft her, die die Ursachen von Krisen und Not seien. Diese Eckpunkte seien die Vergesellschaftung von Grund und Boden und Fabriken, die allgemeine Pflicht zur Arbeit, die allgemeine Planung und Steuerung von Produktion und Konsumtion nach den tatsächlichen Bedarfen der Menschen, allgemeine Bildung und Entfaltung aller schöpferischen Fähigkeit der Mitglieder der Gesellschaft durch die Befreiung von der ausbeuterischen Lohnarbeit, die allein der Mehrung des Profits der Kapitalisten diene. Im Grunde genommen sei mit der heute erreichten Produktivität, so Bebel, ein Wohlergehen für alle Menschen möglich. Dass stattdessen Not und Elend für so viele herrschten, sei einzig in der kapitalistischen Staats- und Gesellschaftsordnung begründet.
Wie aber diese neue sozialistische Ordnung im Einzelnen organisiert werde, hänge von den konkreten Verhältnissen zum Zeitpunkt des Eintritts dieser Umwälzung ab. Dies heute schon ausmalen zu wollen, sei unseriös. Die Entwicklung in Technik und Produktion, im Kommunikations- und Verkehrswesen sei so rasant, dass man heute noch nicht sagen könne, wie man in Zukunft Produktion, Distribution und Konsumtion organisieren werde.
Diese Entgegnung von Bebel war kein rein taktisches Manöver in einer gesellschaftspolitischen Parteienauseinandersetzung auf der Bühne des Reichstages, sondern vor allem die Bekräftigung eines theoretischen Konsolidierungsprozesses der deutschen Sozialdemokratie, der im Erfurter Programm von 1891 seine Manifestation gefunden hatte. Ein zentraler Kernpunkt war dabei nämlich gerade die von Marx und Engels stark beförderte Lösung von utopisch sozialistischen Gesellschaftsvorstellungen der „Frühsozialisten“ (Owen, Saint-Simon, Fourier etc.), aber auch von den Ideen des „Genossenschaftssozialismus“ von Hermann Schulze-Delitzsch oder Ferdinand Lassalle, die in der Entstehungsphase der Sozialdemokratie noch dominant waren. Hinzu kam, dass zu Anfang der 1890er Jahre verschiedene sozialutopische Schriften aus bürgerlichen Kreisen erheblichen Anklang fanden. So wurde die kapitalismuskritische Schrift von Edward Bellamy „Rückblick aus dem Jahre 2000“ zu einem internationalen Bestseller. Auch von dessen Darstellung der Zukunftsordnung wollte Bebel die Sozialdemokratie abgrenzen.
Nach Wilhelm Liebknechts Rede am 7. Februar erklärte der Abgeordnete Adolf Stoecker für die staatstragenden Fraktionen: “Alles muss ein Ende haben, und diese Debatte auch.“ Beide Seiten proklamierten sich anschließend zum Sieger dieser Redeschlacht im Reichstag. Friedrich Engels gratulierte Bebel in einem Brief zu dessen Rede und wertete die Tatsache, dass der Deutsche Reichstag fünf Tage lang über eine sozialistische Ordnung der Gesellschaft diskutiert habe, als ein historisches Zeichen.
Beide Seiten brachten im Anschluss an die Reichstagsdebatte jeweils Broschüren für die Massenagitation heraus, die die „Zukunftsstaatsdebatte“ im vollen Umfang dokumentierten. Nimmt man das Ergebnis der vorgezogenen Neuwahlen vom Juni 1893 zum Erfolgsmaßstab dieser Debatte, so erzielte die SPD unter allen Parteien die mit Abstand meisten Wählerstimmen und konnte die Zahl ihrer Reichstagsmandate von 35 auf 44 (von 397) erhöhen.
Postkapitalismus heute?
Die SPD hat sich in den folgenden Jahrzehnten, wie vom Zentrumsabgeordneten Dr. Bachem in der Debatte „gewünscht“, in eine systemtragende sozialreformerische Partei verwandelt. Die Abschaffung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ist nicht mehr ihr Ziel, sondern deren sozial gerechtere Gestaltung. Die LINKE, welche sich in der Tradition der marxistischen revolutionären Sozialdemokratie von Bebel, Liebknecht und Singer sieht, hat sich in ihrem Erfurter Programm von 2011 zwar einen grundlegenden Wandel der Eigentumsverhältnisse und der Wirtschaftsordnung zum Ziel gesetzt, allerdings solle dies im Ergebnis eines langwierigen politischen Transformationsprozesses erfolgen, in dem die Dominanz des kapitalistischen Eigentums zurückgedrängt und die Wirtschaftsordnung mit unterschiedlichen Eigentumsformen demokratisch gestaltet werde. Vergesellschaften wolle man nur noch strukturbestimmende Großkonzerne und Betriebe der Infrastruktur und Daseinsvorsorge. Die Gewissheit einer „naturgesetzlichen“ Ablösung des Kapitalismus und eines unausweichlichen Sieges der Sozialisten ist verloren. Die LINKE kämpft heute gegen das Abrutschen in politische Bedeutungslosigkeit an.
Im erstaunlichen Kontrast zu dieser völlig veränderten politischen Programmatik der Erben Bebels steht die Tatsache, dass das kapitalistische System sich heute, ganz ähnlich wie zum Ende des 19. Jahrhunderts, wieder in einer existenziellen Krise befindet. Diese wird als Zusammenkommen multipler Krisen reflektiert. Die soziale Krise hat nichts von ihrer Brisanz verloren. Die Spaltung zwischen Vermögenden und Vermögenslosen hat nicht nur eine globale Dimension bekommen, sondern ist sogar noch sehr viel tiefer geworden. Das Auf- und Wettrüsten und die dafür eingesetzten Produktivkräfte haben Dimensionen angenommen, die sich Bebel und seine Zeitgenossen nicht hätten vorstellen können. Hinzugetreten sind die Ressourcenkrise bei Rohstoffen und Energie sowie eine globale ökologische und Klimakrise. Diese Kumulation der Krisen stellt die kapitalistische Wirtschaftsordnung in Frage. Politiker, Wissenschaftler, Vertreter von zivilgesellschaftlichen Organisationen aus aller Welt und allen sozialen Schichten machen die Produktions- und Konsumtionsweise des Kapitalismus für diese globalen Existenzkrisen verantwortlich und fordern eine neue, andersartige Wirtschafts-, Sozial- und Weltordnung, den Ausstieg aus dem immanenten Zwang der kapitalistischen Produktionsweise zu Wachstum und zur Profitmaximierung.
Ihnen wird heute – ganz ähnlich wie in den 1890er Jahren – die Schauergeschichte vom Zusammenbruch der Wirtschaft, vom Verlust von Produktivität und Effektivität, von drohender zentralstaatlicher Reglementierung und Rationierung, vom Verlust von Freizügigkeit und Wohlstand entgegengehalten. Es gibt allerdings einen grundlegenden Unterschied: Sie werden nicht nur mit dystopischen Fantasien von mehr oder weniger geistreichen Autoren konfrontiert, sondern auch mit dem Verweis auf die untergegangene Planwirtschaft in der DDR und in anderen Ostblockstaaten und deren undemokratischen politischen und gesellschaftlichen Zwangscharakter. Die so konfrontierten Kapitalismuskritiker argumentieren, dass es nicht nur die Wahl zwischen der zerstörerischen kapitalistischen Marktwirtschaft und der bürokratischen und uneffektiven Planwirtschaft des verblichenen autoritären Staatssozialismus gäbe, sondern eine neue postkapitalistische gemeinnützliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung möglich sei und entwickelt werden müsse.
Bebel und Genossen konnten den plumpen, parteitaktisch motivierten Vorstoß der den wilhelminischen Kapitalismus stützenden Parteien in der Reichstagsdebatte mit großer Selbstgewissheit und Überzeugungskraft abwehren. Aber die Kernfrage nach den Grundprinzipien der Organisation und Steuerung von Produktion und Konsumtion in einer postkapitalistischen, sozialistischen Gesellschaft blieb unbearbeitet. Karl Kautsky hat in seiner Schrift „Die soziale Revolution“ (1902), die im Rahmen der sogenannten Endzieldebatte bzw. Revisionismusdebatte (1898 bis 1903) entstand, das Thema der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft nach der Machtübernahme der Sozialdemokratie wieder aufgegriffen. Obgleich die marxistische Parteimehrheit bis zum Ersten Weltkrieg am Ziel der revolutionären Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung festhielt, verfügten die Führer der Linken in der revolutionären Nachkriegskrise weder in Deutschland noch andernorts über umsetzbare Handlungskonzepte für eine Neuordnung der Volkswirtschaft und die Vergesellschaftung der Groß- und Schlüsselindustrien. Das mussten auch die russischen linken Sozialdemokraten erkennen, als sie nach der Machtergreifung in der Oktoberrevolution und dem Sieg im verheerenden Bürgerkrieg die sowjetische Volkswirtschaft aufbauten. Sie experimentierten mit unterschiedlichen wirtschaftlichen Steuerungsinstrumenten, bis unter Stalin Anfang der 1930er Jahre die autoritär geführte zentralistische Planwirtschaft durchgesetzt wurde.
In den folgenden Jahrzehnten entwickelten sozialistische Politiker und Theoretiker verschiedener Länder unterschiedliche Ideen für eine nachkapitalistische Wirtschaftsordnung, doch die Grundfrage, wie eine Volkswirtschaft bzw. die Weltwirtschaft in einer solchen alternativen Wirtschaftsordnung gesteuert werden könnten, blieb ohne überzeugende Antwort. Für die Steuerung einer Volkswirtschaft, für die Regulierung des Einsatzes von Grundstoffen, Produktionsmitteln und Arbeitskräften sind Messen und Bewerten maßgeblich. Damit sind die Faktoren Preis, Geld und Gewinn aufgerufen. Angesichts der Defizite einer zentralistischen Planwirtschaft gab es in der DDR und anderen staatssozialistischen Ländern einige Debatten über die Implantation oder Adaption von Wirkmechanismen der kapitalistischen Marktwirtschaft in die sozialistische Planwirtschaft. Das mündete in Ideen einer Marktwirtschaft im Sozialismus, die aber das staatliche Eigentumsmonopol immanent in Frage stellte. Das staatssozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem brach zusammen, was ein Beleg für seine Reformunfähigkeit zu sein scheint.
Nichtsdestotrotz ist das Ende der kapitalistischen Wachstumswirtschaft und damit des Kapitalismus überhaupt angesichts der existenziellen Krisen und der unübersehbaren Begrenztheit des Planeten in vieler Munde. Allein bei der Frage, was kommt nach dem Kapitalismus, dominiert Sprachlosigkeit. Wie schon in der Zukunftsstaatsdebatte vor 130 Jahren die Vertreter der Zentrumspartei und der Liberalen, antworten einige Kritiker der sozialen und ökologischen Verwerfungen des Kapitalismus mit der Formel „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung“. Dem halten die radikalen Kapitalismuskritiker entgegen, dass „der Kapitalismus als Ursache der Probleme nicht Teil der Lösung sein könne“.
Gegenwärtig hat ein „grüner Kapitalismus“ als gesellschaftspolitisches Konzept in der öffentlichen Debatte eine gewisse Hegemonie errungen. Ökologie muss sich lohnen. Mit ökologischer Produktion, Distribution und Konsumtion müssen sich Profite erzielen lassen. Zwar wird dies meist mit einer starken, durchgreifenden staatlichen Regulierung verbunden, aber der kapitalistische Wirtschaftswachstumsmotor Markt-Preis-Profit soll im Kern erhalten bleiben. Zentrale staatliche Regulation, Planung und Rationierung seien viel zu bürokratieaufwendig, unflexibel und ineffizient. Das ist kein simples Greenwashing, wie zuweilen unterstellt wird, sondern die Verfechter des grünen Kapitalismus verfolgen eine systemkonforme ökologische Reform der kapitalistischen Produkts-, Distributions- und Konsumtionsweise. Die umstrittenen Resultate früherer Kapitalismusreformprojekte – wie des „organisierten Kapitalismus“ Anfang des 20. Jahrhunderts, des „New Deal“ nach der Weltwirtschaftskrise oder der sozialen Marktwirtschaft in westeuropäischen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg – schrecken die heutigen Verfechter des „Green Deal“ nicht. Für sie ist dieser Weg alternativlos, der postkapitalistische dagegen ist in ihren Augen wie schon zu Bebels Zeiten ein Irrweg.
Während Bebel und die SPD 1893 diese Fragen – politisch unbeschadet – an zukünftige Sozialisten delegieren konnten, sollten Postkapitalisten anfangs des 21. Jahrhunderts überzeugende Antworten auf diese Grundfragen finden, oder die Welt gerät in eine weitere Umdrehung der Reform des Kapitalismus; diesmal der ökologischen. Ob sie das aber überleben wird?
M. Nelken 27.01.2023
Eine gekürzte Fassung erschien im Neuen Deutschland am 07.02.2023 –>download